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Ostdeutsche laut Wanderwitz unzureichend an Macht im Staat beteiligt - "In Bayern wäre Revolution"

Ostdeutsche laut Wanderwitz unzureichend an Macht im Staat beteiligt - "In Bayern wäre Revolution"

Der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz, über Corona und fehlende ostdeutsche Entscheider.

Marco Wanderwitz ist Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und der Ost-Beauftragte der Bundesregierung. Der in Hohenstein-Ernstthal aufgewachsene CDU-Politiker glaubt, dass die Erfahrungen der Ostdeutschen viel stärker ganz Deutschland helfen könnten. Wenn die Ossis denn zum Zuge kämen. Tim Hofmann und Torsten Kleditzsch haben mit ihm gesprochen.

Freie Presse: Herr Wanderwitz, hat auch diese Pandemie ihre ostdeutschen Besonderheiten?

Marco Wanderwitz: Wirtschaftlich ist der Osten derzeit eher etwas weniger betroffen. Wir sehen, dass Corona bislang dort die größten wirtschaftlichen Schäden verursacht hat, wo die wirtschaftliche Basis eigentlich am stärksten ist. Im Südwesten Deutschlands. Das hat auch mit dem Thema Automobil zu tun, wo wir ohnehin in einem Strukturwandel stecken. Aber es geht weit darüber hinaus. Internationale Lieferketten spielen eine Rolle, ein gestörter Welthandel. Deshalb sind dort die Kurzarbeiterzahlen viel dramatischer als etwa in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg. Und auch der teilweise Widerstand gegen die Coronapolitik von Bund und Ländern ist kein auf Ostdeutschland beschränktes Problem.

Zugleich haben Sie bei anderer Gelegenheit bereits auf einen Ihrer Meinung nach offensichtlichen Zusammenhang hingewiesen zwischen AfD-Wahlergebnissen und Corona-Entwicklung - speziell hier in Sachsen.

Wenn man mit offenen Augen durch ein Dorf oder eine Kleinstadt geht, kann man eben beobachten, dass dort, wo hohe AfD-Ergebnisse vorliegen, die Leute oft auch häufiger als anderswo auf die Regeln pfeifen und damit aus meiner Sicht das Infektionsgeschehen anfeuern. Das lässt sich auch mit einem Blick nach Mecklenburg-Vorpommern nicht entkräften, wo wir es mit ähnlichen AfD-Ergebnissen zu tun haben, aber weniger Infektionen. Denn natürlich brauchst du einen kritischen Grundeintrag. In einem Dorf, wo keiner Corona hat, können theoretisch auch alle ohne Masken rumlaufen. Da passiert nichts. Aber durch den heftigen Grundeintrag, den wir hier insbesondere aus dem Tschechischen bekommen haben, und den wir dann hier weiter angekocht haben, befinden wir uns heute in dieser dramatischen Situation. In geringerem Maße ist das in Ostbayern ähnlich.

Könnte nicht einfach Sorglosigkeit der Grund sein, weil Sachsen sehr gut durch die erste Welle gekommen ist?

Natürlich spielt auch das eine Rolle. Ein Mix aus geringen Folgen in der ersten Welle, Lockerungsübungen den Sommer über und eine berechtigte größere Sorge um die wirtschaftlichen Konsequenzen der Coronamaßnahmen. Schließlich ist der Wohlstand hier kleiner und gefährdeter. Aber ich fürchte, es sind immer noch nicht alle so wach, wie ich mir das wünschen würde. Und ich fürchte auch, den Preis, den wir dafür zahlen werden, der ist ziemlich hoch.

Wäre die AfD überhaupt in der Lage, die bunte Truppe der Coronaskeptiker und -leugner zu vereinnahmen? Dort führen Figuren wie Attila Hildmann das Wort.

Zumindest im Osten ist es nicht das Ziel der AfD, diese Anhänger dieser Bewegung zu integrieren. Hier geht es darum, die eigene Klientel bei Laune zu halten. Einmal mehr zu demonstrieren: Wir sind gegen das sogenannte Etablierte. Ich glaube aber, dass die Rechnung nicht aufgeht, weil doch viele, die einst AfD wählten, bei diesem Thema mit dem Kurs dieser Partei fremdeln. Die AfD wird daraus langfristig keinen Honig saugen können.

Könnten Sie das nicht einfach still geschehen lassen?

Das Thema Spaltung der Gesellschaft sehe ich wohl. Ich bin auch absolut willens, da wo ich sinnvolle Ansätze dafür sehe, ihr entgegenzutreten und versöhnend zu wirken. Aber mindestens genauso wichtig ist mir, diese 10, 15 Prozent, die entlang der Bruchlinie mäandern, wieder zurückzuholen ins unzweifelhaft demokratische Spektrum. Deshalb bin ich auch für eine deutliche Ansprache. Es gibt leider einen Teil der Bevölkerung, der für die Demokratie verloren ist. Und der ist im Osten größer als im Westen. Da ist nicht viel mit Versöhnen, Einen und Tun. Damit werden wir langfristig leben müssen und der Rechtsstaat wird Kante zeigen müssen.

Haben Sie die sächsische Coronapolitik in den vergangenen Monaten als ausreichend konsequent erlebt?

Niemand hat die Glaskugel, in der sich jederzeit die ganze Wahrheit offenbart. Ich für meinen Teil habe in den letzten Wochen und Monaten regelmäßig dafür geworben, dass wir ein gewisses Maß an Bundeseinheitlichkeit brauchen und uns einige Regeln antrainieren sollten, auch wenn sie im Sommer vielleicht etwas schwerer vermittelbar sind, wir sie aber im Winter brauchen werden. Deswegen hätte ich mir etwas mehr Interesse für bundesweit einheitliche Regeln und mehr Orientierung an Bayern gewünscht.

Werden die Erfahrungen der Coronapandemie Folgen haben?

Wir werden auf jeden Fall die Debatte bekommen, dass der Staat wieder mehr Vorsorge betreiben muss. Ich habe zuhause ja auch eine Speisekammer, aus der ich gut zwei, drei Wochen leben kann. Und der Staat braucht analog mehr Vorsorge im Sinne von bevorrateten Materialien und weniger Abhängigkeit. Es darf nicht sein, dass wir lebensnotwendige Dinge nicht beschaffen können, weil wir dabei auf China oder wen auch immer angewiesen sind. Das heißt aber auch, wir müssen uns das etwas kosten lassen. Und das Geld wird es dann an anderer Stelle nicht geben.

Ihr Ministerium hat eine Menge Unterstützungsprogramme für die Wirtschaft aufgelegt. Wird es Ihnen Angst, wenn Sie die Kosten sehen?

Nach diesem einen Jahr sind wir nun faktisch wieder dort, wo wir vor sieben Jahren mit der "schwarzen Null" angefangen haben zu sparen. Natürlich macht mir das Sorgen, weil dadurch erneut Lasten in die Zukunft verschoben werden. Und deswegen diskutieren wir darüber, dass es nicht der Anspruch sein kann, jedermann von allen Coronaverlusten freizustellen.

Einige Bereiche der Gesellschaft haben sich mithilfe einer gut funktionierenden Lobby schnell als systemrelevant darstellen können - andere hatten weniger Erfolg. Etwa die freie Kulturbranche. Ist es an der Zeit, die Gewichte da neu auszutarieren?

Es gibt Bereiche, in denen sind einfach alle grundlegend betroffen - und dann gibt solche, die aktuell zwar ihr Angebot einschränken müssen, bei denen aber klar ist, dass sie für die Zeit nach der Pandemie nicht infrage stehen. Etwa, weil sie sehr nah am staatlichen System dran sind wie Museen und Theater. Da steht uns eine breite Diskussion bevor, was Corona langfristig mit uns als Gesellschaft machen wird. Ich gehe davon aus, dass sich zum Beispiel unser Konsum- und Freizeitverhalten dauerhaft verändern wird. Wenn dem so ist, wenn der Zustand von vor Corona also nie wiederkommt, dann muss man überlegen, ob es Sinn macht, den einen oder anderen Bereich für eine möglicherweise noch lange Zeit in Gänze durchtragen zu wollen.

An welche denken Sie?

Da sind wir wieder bei der Glaskugel. Ich denke nicht, dass es künftig keine Konzerte mehr geben wird oder keine Feste. Aber vielleicht weniger, bewusster. Und das heißt Umbau.

Erwarten Sie so drastische Veränderungen, dass man sie mit den Umbrüchen nach der Friedlichen Revolution vergleichen kann?

Ich glaube, dass wir schon mit Themen wie Mobilitätswandel und Digitalisierung zwei Strukturwandel vor der Brust haben, die dem Umbruch von nach 1990 entsprechen. Nur, dass sie Gesamtdeutschland und ganz Europa betreffen. Corona kommt da noch hinzu. Ich habe deshalb auch eine ganze Menge Kraft in die Regierungskommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit" gesteckt, weil die sich vor allem damit beschäftigt hat, welche Lehren man aus diesem immer noch nicht ganz aufgearbeiteten Transformationsprozess ziehen kann.

Glauben Sie, dass Ostdeutschland von diesen Erfahrungen profitieren kann?

Ja, ich glaube, dass die Menschen in den neuen Ländern Kompetenzen erworben haben, die vorteilhaft sein können. Man muss sie nur auch nutzen - und das setzt passende politische Rahmenbedingungen voraus.

In Ihrem Bericht steht, dass die Ostdeutschen nur unzureichend an der Macht im Staat beteiligt sind. Einzige Ausnahme: die Politik. Was schlagen Sie vor, damit Ostdeutsche häufiger dort vertreten sind, wo die Entscheidungen fallen?

Erst einmal ist es ja positiv, dass die Ausnahme die Politik ist, weil dort ja eine ganze Menge wichtige Entscheidungen fallen. Ansonsten hilft sicherlich, Begabungen besser zu fördern. Dann wächst sich das aus. Deshalb schlagen wir ein entsprechendes Förderwerk vor. Das halte ich für eine gute Idee, denn dadurch entstehen Netzwerke, die wir noch nicht in dem Umfang haben, wie wir sie brauchen. Es ist doch verständlich, dass die Menschen nicht dauerhaft hinnehmen wollen, dass sie in den Entscheidungsetagen ihrer unmittelbaren Heimat nicht ausreichend präsent sind. Horst Seehofer hat mir mal gesagt: Wenn es in Bayern so wäre, wäre am nächsten Tag Revolution.

Sie setzen also lieber auf die Förderung von Begabung und Engagement und nicht auf eine Quote, was ja auch diskutiert wurde?

Mich hat noch keiner überzeugt, wie man sinnvoll definiert, wer überhaupt "ostdeutsch" ist. Nur weil man als Kind aus dem Westen in den Osten gezogen ist, bevor man hier aufwuchs, ist man doch kein "Wessi".

Aber in Ihrem Bericht versuchen Sie eine Definition, die darauf abzielt, dass man schon direkt oder indirekt in der oder durch die DDR sozialisiert worden sein muss?

An der Stelle habe ich hingenommen, dass die Mehrzahl der Kommissionsmitglieder den Wunsch hatte, einen solchen Definitionsversuch zu unternehmen. Besonders gelungen ist er aus meiner Sicht aber nicht. Entscheidender als solche Schubladen ist für mich: Bei gleicher Eignung sollte man selbstverständlich immer den Einheimischen nehmen, also nicht neu nach Schleswig-Holstein oder Baden-Württemberg ausgreifen. Genau das ist nämlich in der alten Bundesrepublik auch normal. (tim/kle)